Über das Sag- und über das Zeigbare

Über das Sag- und über das Zeigbare

Kürzlich stand ich an einer Straßenecke und habe telefoniert. Erstmal nichts ungewöhnliches. Am anderen Ende war meine Frau. Die hatte sich gewünscht, dass ich ihr etwas aus dem französischen Laden hinter mir mitbringen möge. Angesichts der Auswahl musste ich nachfragen. Es gäbe da doch nur Süßigkeiten. Im Schaufenster Negerküsse in allen Variationen. Mir stockte für einen Moment der Atem. Was habe ich da gerade gesagt? Unsicher schaue ich nach rechts und links, aber niemand, der mich strafend ansieht. Ohweia…

Bin ich ein Rassist?

Rausgerutscht ist mir das böse Wort. Und erstarren lassen hat es mich. Mich halb schamerfüllt, halb schuldbewusst im Mark getroffen. Zum einen, weil – obgleich ich schon ein halbwegs bewusst durchs Leben schreitender Zeitgenosse bin –  ich mich unabsichtlich abwertend geäußert habe. Zum anderen, weil es mir selbst schaudernd durch die Knochen gegangen ist. Ich habe etwas gesagt, was unterdessen ein Tabu ist. Was – durchaus berechtigt – gecancelt oder zu canceln ist. 

Nun kam mir nochmal ein Artikel in den Sinn, mit dem ich mich anlässlich einer Diskussion über cancel culture in der Kunst beschäftigen musste, und der sich irgendwie tief in meinen Hinterkopf gegraben hat. Weniger aus einer mitfühlenden Haltung für diskriminierte Personengruppen heraus, sondern weil ich in jenen Zeilen an vielen Stellen eine Geisteshaltung erkenne, die mich tief beunruhigt. Die mir – gar nicht aus einer betroffenen Perspektive heraus, sondern aus einer unbeteiligt urteilenden (der Autor ist selbst ein „alter weißer Mann“) – mitteilt, dass ich doch einsehen müsse Schuld zu tragen, mich nur durch Übung in Selbstkritik auf einen Weg der Besserung begeben könne, Bücher verbannen (verbrennen wäre wohl doch zu nah dritten Reich), mir meiner Leid und Schmerz erzeugenden Sozialisation bewusst werden und mich von liebgewordenen Kindheits- (z.B. hier und hier) und sonstigen Kulturgütern (z.B. hier und hier) befreien müsse. Mein Gedanke: so fingen schon früher Kulturrevolutionen an. Von der Kirche mal ganz zu schweigen.

Zurück zum Telefonat: da bin ich dann wohl doch ein Rassist. Ernüchtert ergebe ich mich. Dann ist das eben so. Irgendwie bin ich ja in guter Gesellschaft: schließlich sind wir kollektiv doch alle Rassisten. Trotzdem, so recht wohl mag mir das Label nicht gefallen. Auch wenn der Begriff Rassismus irgendwie beliebig und damit spürbar abgewertet wird. Ich will mich auch mit der pauschalen Einsicht, ich müsse auf meine Wortwahl achten, noch nicht zufrieden geben. Dazu empfand ich schon alleine den körperlichen Schrecken auf meinen Ausrutscher einen Tick zu heftig. Wann bin ich denn nun politisch korrekt? Und wenn nicht, warum nicht? Und wie fühle ich mich dabei?

Wie wird dieses Konfliktfeld diskutiert?

Die meisten Diskussionen über cancel culture, über political correctness, über strukturellen, kulturellen, sozialen und welchen auch immer Rassismus überfordern mich. Sie überfordern mich vor allem deshalb, weil ich keine Orientierung finde. Ich empfinde wohl Verständnis, oft auch Mitgefühl. Manchmal auch Schuld oder Scham. Und doch sagt mir eine innere Stimme, das kann nicht meine Haltung sein. Es kann aber auch ebensowenig jene sein, die sich – und sei es nur verdeckt – diskriminierend gibt. Orientierung finde ich üblicherweise in Begriffen. In jenem semantischen Fundament auf dem eine Diskussion stattfinden kann. Fehlende Orientierung empfinde ich als Glatteis, wackeliger und sich stets verändernder Boden. Als fehlendes Fundament. Und derartige Diskurse unglücklich bis überflüssig. Warum darüber sprechen, wenn es noch nichtmal eine gemeinsame Sicht auf die Begriffe gibt? Oder ein Einsehen darin, eine solche überhaupt erstmal herzustellen.

Nun habe ich es hier aber immer wieder mit eher diffusen Begriffslage zu tun. Es geht um „Ungerechtigkeit“ (übrigens seltener um „Gerechtigkeit“) um „Schaden“, den „wir“ „anderen“ in der Vergangenheit zugefügt haben und mutmaßlich auch heute noch. Um „Verletzungen“, die wir mit dem Aussprechen von Wörtern oder auch dem Zeigen von Bildern den „Opfern“ „wiederholen“. Es geht in solchen Diskussionen um Berge von echter und vermeintlicher Betroffenheit, um Befindlichkeiten und Gefühle. Es geht um moralische Ansprüche (an andere) und es geht auch allzuoft um schulmeisterliche Belehrung. Und das alles überfordert mich. 

Wie soll ich da nun eine Position finden? 

Wie immer, wenn das sich vor mir Auftürmende zu hoch scheint: ich schneide mir den Elefanten erstmal in Scheiben. (Ich hoffe die Metapher verletzt nun niemanden. Obwohl, ist mir hier gerade egal.) Nehmen wir mal ein Bild. Die Darstellung in diesem Bild, der visuell gewordene Ausdruck, wie ordnet dieser sich nun ein? Genügt er den moralischen Kriterien? Was darf man denn zeigen? Oder was kann man denn zeigen?

Was darf man zeigen?

Dürfen, das ist nun eine durch und durch normative Fragestellung. Normativ ist aber etwas, das nicht subjektiv beantwortet werden kann. Schließlich soll es ja für alle Gültigkeit haben. Alle, das meine ich im Sinne der Gesellschaft, in der ich lebe. Und diese Gesellschaft verstehe ich als ein System aus verschiedenen Positionen, Strömungen, Interessenslagen, aber auch Macht- und Kräfteverhältnissen. Ganz unabhängig davon, ob es mir oder anderen gefällt. Was also ist in diesem System akzeptabel? Das wird durch unseren Rechtsrahmen geregelt. Dafür haben wir ihn. Das können ganz unterschiedliche Rechtsgebiete sein: das Urheberrecht, die Kunstfreiheit, das Strafgesetzbuch, das Sozialrecht, der Datenschutz, usw. Welcher Rechtsraum auch immer, eine Darstellung muss sich darin bewegen. Nun dient dieser Rechtsrahmen primär gar nicht der Einschränkung, sondern er dient den Interessen von vielen unterschiedlichen Personen, die in diesem Rechtsraum zusammenleben. Freiheit ist halt immer die Freiheit der anderen. Insofern spannt das Recht einen Lebensraum auf, in der viele unterschiedliche Positionen, Haltungen, Lebensentwürfe, Weltanschauungen gemeinsam miteinander existieren können. Solange also mein Bild nichts enthält, was rechtswidrig wäre, solange ist es also grundsätzlich zeigbar. So viel zum darf. Aber ist der verbleibende Spielraum damit abgehakt? Was ist denn nun mit Empathie? Mit Verständnis und Miteinander?

Was kann man zeigen?

Selbst wenn es rechtlich nicht aneckt kann ein Bild oder Ausdruck doch problematisch sein. Der obige Telefonlapsus wird durch kein Strafrecht bewehrt. Und doch ist er nicht in Ordnung. Was ich also brauche ist eine moralische Betrachtung. Am besten einen Katalog von Kriterien. Etwas, das dazu dienen kann die eigene visuelle (oder auch verbale) Äußerung zu beurteilen und einzuordnen. Betrachte ich doch mal die unterschiedlichen Mitspieler:

  1. Ich muss die Ansprüche oder Interessen von Abgebildeten berücksichtigen: ich könnte mit einem Bild ja die Würde, Ehre, Haltung oder auch ganz profan das Eigentum, Umgebung etc. von abgebildeten Personen verletzen. 
  2. Aber auch die Fotografin hat Interessen und Ansprüche. Hat möglicherweise einen (selbstverständlich redlichen) Auftrag. Sie will ja etwas zum Ausdruck bringen. Solche Ansprüche oder Interessen sind nicht weniger wert als die der Abgebildeten. Auch das gilt es mitzudenken. 
  3. Redaktionen oder Verlage haben ebenfalls Ansprüche oder Interessen. Sie wollen publizieren und dazu müssen sie zeigen. Hier gilt es auch mitzudenken, wie der Kontext der Abbildung ist. Ein Bild einer Gewalthandlung ist in einer Ermittlungsakte oder einer Dokumentation völlig akzeptabel, eventuell gar notwendig, während auf einem Plakat in der Öffentlichkeit dasselbe Bild wohl eher unangemessen wäre. Im Regelfall jedenfalls. 
  4. Und damit sind wir auch bei der letzten Gruppe: der Betrachter. Auch deren Interessen und Ansprüche spielen mit. FSK, Regeln in Sozialen Netzen, aber auch Triggerwarnungen gehören in dieses Feld. Zensur allzuoft und auch allzu schnell genannt sind das Versuche eine Art Konsens mit Betrachterinnen herzustellen. Deren Interessen in Zusammenhang einer Publikation oder Aufführung zu berücksichtigen. 

Eine komplexe Gemengelage. Und es wird mir deutlich, dass darin mannigfaltige Konflikte verborgen sind. Wessen Interessen wiegen nun schwerer? Wer hat ein Vorrecht? Wer ist schützenswerter? Darauf gibt’s keine allgemeingültige Antwort und noch weniger einen Algorithmus. Und doch ist das ein Ansatz, der operationalisierbar ist. Mit dem ich aus dieser diffusen Diskussionslage heraus handlungsfähig werden kann: ein Bild, eine Aussage muss sich in diesem Spannungsfeld jeweils individuell beurteilen lassen. Und im Ergebnis muss ich dann vermutlich eine Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, die möglicherweise eine oder auch mehrere Positionen verletzt. Ich komme um den Vorwurf der Diskriminierung vielleicht gar nicht herum. Aber, ich habe mögliche Wirkungen bedacht und so ganz bewusst eine Position eingenommen. 

Politisch unkorrekt ist gar nicht zu vermeiden

Was darf ich also zeigen – oder auch sagen? Alles was rechtlich ohne Beanstandung ist. Und was kann ich zeigen? Nun, alles, wozu ich mir im Spannungsfeld der obigen Interessen mögliche Wirkungen klar gemacht habe. Und dann bewusst die Entscheidung treffe zeigen oder nicht zeigen. Sagen oder nicht sagen. 

Mein Fazit: ich muss nicht notwendigerweise politisch korrekt sein. Ich kann es in aller Regel ja gar nicht. Wichtig scheint mir aber, sich die möglichen betroffenen Positionen vor Augen zu halten und die Aussage im Bewusstsein zu treffen, dass ihre Rezeption auch eine Diskriminierung enthalten kann. Und Rassismus macht sich dann primär nicht in Äußerung breit, sondern in der Haltung und im Bewusstsein mit der diese Äußerungen erfolgen. 

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