von Ralf Hanselle

Bilder von Landschaften sind Bilder vom Naheliegenden. Als die Künstler im Goldenen Zeitalter der Niederlande das Landschaftsbild zur eigenständigen Gattung der Malerei erhoben, da war dies vor allem ein Akt von Säkularisierung und Weltaneignung. Der Himmel der Engel und Heiligen hatte sich im Krieg zwischen der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande und dem katholischen Spanien allmählich entvölkert, und auch Klerus und Kaiser standen mit der Gründung der unabhängigen Utrechter Union als Bildmotiv nicht mehr zur Verfügung. Was den Malern der jungen Niederlande indes blieb, das war das unmittelbar Sichtbare: die Küsten, Kanäle und Veduten; die Territorien an Nordsee und Niederrhein. Künstler wie Jacob van Ruisdael oder Jan van Goyen dürften über dieses Terrain fast automatisch gestolpert sein, als sie sich im 17. Jahrhundert auf die Suche nach neuen Sujets und Gattungsformen machten. Seit jeher hatten diese Naturräume schließlich buchstäblich vor ihren Füßen gelegen.[i]

Die Landschaft ist in dieser Lesart also das, was unmittelbar vor Augen tritt. Zwar hat sich der Begriff  „Landschaft“ in seiner heutigen Bedeutung erst im ausgehenden Mittelalter herausgebildet, doch die Wälder und Hügel, der Wildwuchs und die natürliche Weite dürften dem Menschen von jeher als ursprüngliche und quasi archetypische Resonanzzone entgegengetreten sein. Besonders in der Romantik setzt sich in diesem Sinne die Idee einer geheimnisvollen Korrespondenz zwischen einer inneren und einer äußeren Natur im Menschen durch – zwischen physischem Lebens- und psychischem Seelenraum. Es ist ein Verschränkungs- und Näheverhältnis, das sich indes nicht nur bis an die Grenzen der Moderne durchzieht, es verstärkt sich geradewegs noch einmal an deren Rändern: Als sich nämlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Fotografie als neues Leitmedium des bürgerlichen Zeitalters etabliert, da erfährt besonders die Landschaftsdarstellung eine erneute Blüte. Auf den oftmals großformatigen, auf Salz- und Albuminpapier aufgebrachten Fotografien eines Timothy O’Sullivan, William Henry Jacksons oder Gustave Le Grays sind die vermeintlich dokumentarischen Nachbildungen von Seestücken, Winterszenen, Flusslandschaften oder Alpenpanoramen ein beliebtes und stetig wiederkehrendes Thema. Unter Aufwendung von enormen körperlichen Kräften transportieren die oftmals künstlerisch ausgebildeten neuen Lichtbildner ihre schweren Holzkameras und die dazugehörenden kolodiumbeschichteten Nassplatten auf kahle Anhöhen hinauf sowie in unwegsame und weitläufige Geländeformationen hinein.[ii] Exemplarisch hierfür dürften die Fotografen von Fontainebleau stehen – allesamt Natur und Landschaftsbildner, die zeitgleich zu der berühmten Malschule von Barbizon in die riesigen Waldgebiete nahe Paris aufbrechen, um im Schatten von Blattwerk und Zweigen ihre Kunst „pleinair“ zu praktizieren. Dank immer kürzerer Belichtungszeiten und aufgrund einer verbesserten Schärfentiefe lösen diese jungen Landschaftsfotografen somit ein, was der Fotopionier William Henry Fox Talbot gut zwanzig Jahre zuvor versprochen hatte: Im Angesicht von Tann und Dickicht transformieren sie ihre Kamera im wortwörtlichen Sinne zum „Stift der Natur“. Tag um Tag schaffen sie sachliche Nachbildungen der ungezählten Formen, Phänomene und Figurationen, die ihnen in der wildwüchsigen und zuweilen nicht einmal ungefährlichen Landschaft entgegentreten.[iii]

Für Émile Zola, der diese Entwicklung mit großem Interesse beobachtet hat, zeugen diese neuen Naturbilder von einer „durch Leben und Wahrheit“ gerodeten Ideallandschaft. „Niemand“, so heißt es in einem Text des französischen Schriftstellers aus dem Jahr 1868, „würde heute zu behaupten wagen, die Natur müsse idealisiert werden, Himmel und Wasser seien vulgär, und es sei nötig die Horizonte harmonisch zu korrigieren, wenn man gute Bilder [….] will. Wir haben den Naturalismus ohne großen Kampf akzeptiert.“[iv] Die Neigung des fotografischen Apparates zur präzisen Wiedergabe der Erscheinungen scheint geradewegs zur Grundlage dieser neuen Ästhetik geworden zu sein. Denn der Naturalismus verlangt Bilder, die zu Baum Baum und zu Berg Berg sagen können – unprätentiös, direkt und ohne pittoreske Aufladung. 

So wäre es letztlich nur selbstverständlich, wenn man auch von den Landschaftsbildern des Berliner Fotografen Jürgen Hurst eine vergleichbare Unmittelbarkeit erwartete. Für den Fotohistoriker Klaus Honnef schließlich ist diese derart bestimmend für das Nähe-Distanz-Verhältnis von Kamera und Landschaft, dass, er in diesem Kontext längst von einer „Einsenkung des Blickes“ spricht: „Wir sehen nicht mehr das Bild im Bild einer Landschaft, vielmehr die Landschaft, die sich im Bild zeigt“[v], so Honnef jüngst in einem Text über zeitgenössische Landschaftsfotografie. Die Vermutung läge also nahe, dass das „Terrain vague“ des Jürgen Hurst aus gleichem naturalistischen Holz geschnitzt sein müsste wie die monochromen Landschaften auf den Fotografien des 19. Jahrhunderts.  Immer wieder schließlich ist Hurst ähnlich den Fotografen von Fontainebleau auf langen Streifzügen in die angrenzenden Gebiete jenseits der kargen Mauern seiner Wahlheimat Berlin vorgedrungen. Vornehmlich im Norden der Stadt sowie an den Grenzen zu den eiszeitlich gebildeten Hochflächen des Barnim hat er seine Kamera auf das Naheliegende gerichtet: Auf Wäldchen und Weiher, Hecken und Gräser, Birken und Kiefern. Herausgekommen ist ein subjektiver Streifzug entlang der eigenen Neugier: „Ich habe fotografiert, wo ich mit meinem Auge hängengeblieben bin“, sagt Hurst über diese ästhetischen Begehungen des „Terrain vague“. „Es gibt hier keine klare topografische Klammer. Eher geht es mir darum, eine Landschaft im Kopf entstehen zu lassen“.

Doch es ist etwas Merkwürdiges mit dieser Landschaft. Statt dass sie den Betrachter dazu einlädt, tiefer in sie vorzudringen, um so am Ende vielleicht zu einer innersten Natur oder gar zu einem verborgenen Geheimnis zu gelangen, scheint sie ihre archetypischen Zonen fortwährend neu zu verstellen. Von einem Vordergrund aus bahnen sich die Betrachter ihre Wege in die Tiefen der Bilder hinein, nur um dort immer wieder neu zu scheitern. Unentwegt werden die interessierten Blicke von Zäunen oder Mauern ausgebremst, und allerorten stolpert man über Maschendraht oder Sichtbarrieren. Hursts „Terrain vague“ empfängt seine Betrachter mit Trennung und Ausschluss. Und dort, wo diese Trennlinien nicht von Menschenhand gemacht worden sind, verwehren einem Wildwuchs und Wucherungen den unverstellten Blick in die Landschaft hinein. „Die Natur lässt uns nicht zu“, so lautet dementsprechend das Fazit, das Jürgen Hurst nach seiner gut einjährigen Expedition über renaturierte Truppenübungsplätze oder bewaldete Naturschutzgebiete gezogen hat.

Was sich in diese Bilder eingeschrieben hat, das ist eine eigentümliche Erfahrung der Getrenntheit. Max Weber hat sie einst unter dem Begriff der „Entzauberung“ zu fassen versucht, und Hartmut Rosa, einer der derzeit prominentesten Nachfahren dieser Denkschule, nennt sie die „Resonanzkatastrophe“[vi] der Moderne. Für den Jenaer Soziologe ist in diesem Wort jenes Unglück bezeichnet, das den Menschen der Gegenwart immer mehr von seiner ursprünglichen „Weltbeziehung“ abschneiden will. Moderne, so Rosa, sei geprägt von der „Angst vor dem Verstummen der Welt“. Wo die Künstler früherer Zeiten die sie umgebende Landschaft also noch als ein antwortendes Gegenüber erlebt haben – eine Erfahrung, die „aus der Überzeugung [erwachsen ist], dass tief in uns, an der Wurzel unserer Existenz und damit aller Sozialisation und Zivilisation vorgelagert etwas ist und das auf diese reagiert und antwortet“[vii] -, so  scheint diese unmittelbare Resonanz Stück für Stück verlorengegangen zu sein. Eichendorffs berühmtes Lied, das in den Dingen schläft, ist im Verklingen.

Auch die Restlandschaften und Übergangszonen, die Jürgen Hurst in „Terrain vague“ festgehalten hat, scheinen bei aller rhythmischen Gliederung längst ohne derartige Lieder auskommen zu müssen; und die wohlklingende „Sphärenmusik“, die der Naturphilosoph Johannes Kepler noch im 17. Jahrhundert in seinen „Fünf Bücher zur Harmonik der Welt“[viii] zu Gehör gebracht hat, hallt hier auf verstörende Weise dissonant wider. Denn das „Terrain vague“ zeichnet keinen Naturraum nach, der der menschlichen Zivilisation auf geheimnisvolle Weise vorgelagert wäre, vielmehr haben sich in ihm Kultur und Natur ineinander verhakt. Kaum noch nachvollziehbar ist, wo eine angeblich natürliche Landschaft endet und wo Zivilisation beginnen könnte. Jene unberührte Sphäre, die den Künstlern des „Goldenen Zeitalters“ noch unmittelbar gegenübergetreten ist und die die Fotografen des 19. Jahrhunderts in fortwährenden Annäherungsversuchen zumindest noch zu suchen meinten, verschiebt sich hier mit jedem Bild neu in schier unerreichbare Gebiete hinein. So wie zuvor bereits Fotografen wie Axel Hütte oder Hans-Christian Schink ihre Landschaft als brüchige Zonen zwischen Heterotopie und Utopie gezeigt haben, so stellt sich auch das „Terrain vague“ als ein durchmischtes Gebiet dar, auf dem Häuser aus Wäldern herauswachsen und Gräser wild durch alten Straßenbelag hindurchwuchern. Zivilisatorische Zeichen haben den vermeintlichen Echoraum des Menschen in stigmatisiertes Terrain verwandelt. Immer wieder neu lehnt sich dieses gegen kulturell überformte Natur- und Landschaftsbilder auf und stört dabei die Vor- wie Ein-Bildung des Betrachters. Das einstige Näheverhältnis scheint endgültig zerrüttet zu sein. Zurückgeblieben ist eine aufschlussreiche symbiotische Verschmelzung von bekannten Formen und Zeichen.


[i] Zur Entstehung der niederländischen Landschaftsmalerei s. besonders Maria-Theresia Leuker: „Die sichtbare Welt. Visualität in der niederländischen Literatur und Kunst des 17. Jahrhunderts. München 2012

[ii] s. hierzu Beaumont Newhall: „Geschichte der Photographie“. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. München 1998. S. 95ff.

[iii] s.  hierzu Ulrich Pohlmann: „Fotografische Exkursionen im Wald von Fontainebleau“, in: „Natur als Kunst“, hrsg. von der Stiftung Museum Schloss Moyland. Beedburg-Hau 2016. S. 14ff.

[iv] Zola, Émile: „Mein Salon“, in ders.: „Schriften zur Kunst“, mit einem Vorwort von Till Neu. Frankfurt a.M. 1988. S. 305

[v] Honnef, Klaus: „Es ist eine Frage des Blicks“, in: Axel Hütte. Ferne Blicke“, hrsg. Von der Kunstsammlung der DZ Bank. Frankfurt a.M. 2016. S. 8.

[vi] Rosa, Hartmut: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Frankfurt a.M. 2016.  S. 517ff.

[vii] a.a.O., S. 460

[viii] Kepler, Johannes: „Weltharmonik“. Bearbeitet von Max Caspar. 4. Auflage. Berlin (West) 1982.