Birgit Nitsch
Birgit Nitsch, o.T., 2006, ©Birgit Nitsch

Birgit Nitsch

 

Jedes gute Bild ist ein Selbstportrait. Eines der gängigen Zitate und ein gern gesehenes Motto zur Fotografie. Und ja, sicher ist da auch was dran. Und dennoch ist es falsch. Oder zumindest: unvollständig. 

Unvollständig deshalb, weil Fotografie etwas ist, das den Betrachter miteinbeziehen muss. Eine spezifische Form von Kommunikation, bei der es darauf ankommt was beim Gegenüber ankommt. Ein gutes Bild, oder besser gesagt: eine gute fotografische Arbeit ist eine, die dem Betrachter jenen Raum gibt, den er benötigt um sich in ihr zurechtzufinden, seine Gedanken und Empfindungen zu jenen des Fotografen hinzuzufügen.

 

o.T. 2006, ©Birgit Nitsch
Birgit Nitsch, o.T., 2006, ©Birgit Nitsch

 

Die Berliner Fotografin Birgit Nitsch schafft in ihren Arbeiten diesen Raum. Man hat als Betrachter jederzeit das Gefühl dabei zu sein, ohne in den jeweils spezifischen Blick der Fotografin einstimmen zu müssen. Es ist eine freundliche Einladung hinzuschauen und sich zu orientieren. In diesem Moment wachsen Bilder über die Idee des Fotografen hinaus und gewinnen durch andere Sichten hinzu.

Nachfolgend zwei Arbeiten, in denen ihr das sehr gut gelingt. Zwei unterschiedliche Arbeiten: eine, die sich mit äußeren Räumen beschäftigt, eine zweite mit inneren. Zwei Arbeiten die aber am Ende genau jenes Moment wieder vereint, an dem der Betrachter sich abgeholt und mitgenommen fühlt.

 

Jenseits von Gleisen (… auszug aus dem gleichnamigen Buchprojekt, 2009, digital)

Eine Bilderserie mit 13 Bildern. Dargestellt jeweils ein Ausschnitt aus der näheren oder weiteren Umgebung eines S-Bahnhofs. Elf S-Bahnhöfe sind randlägig, zwei sind zentral und gleichzeitig Fernbahnhöfe. Aufgenommen zu unterschiedlichen Jahreszeiten.

Birgit Nitsch, o.T., aus "Jenseits von Gleisen", 2009, ©Birgit Nitsch
Birgit Nitsch, o.T., aus „Jenseits von Gleisen“, 2009, ©Birgit Nitsch

 

Orte haben, – durch welche Umstände auch immer, – ihre jeweils charakteristische Umgebung. Wenn wir sie besuchen, erzeugen diese Umgebungen in uns Gefühle, die mit unseren Erinnerungen, Erwartungen oder Wünschen verbunden sind. Das ist Thema der Arbeit „Jenseits von Gleisen“.

Ausgewogen belichtet und durchgängig scharfgezeichnet bedient sie sich der Stilmittel der Dokumentarfotografie; bleibt dennoch nicht im distanzierten Blick verhaftet, sondern nimmt den Betrachter in ihre persönliche subjektive Sicht der Umgebungen mit hinein.

So stehen wir frontal vor einer Mauer in der Nähe des Hauptbahnhofs, erkennen die Freizeit auf den Seen an der hervorlugenden Schraube eines Motorboots in Erkner, wünschen uns trotz der kühlen Jahreszeit mit den Flamingos in Schönefeld in wärmere Gefilde, und – letztes Bild der Serie – fühlen unmittelbar, wie die S-Bahn in Teltow endet.

Mit ihrem Blick auf die Umgebung, mit einer sicheren Hand ihrer persönliche Sicht Ausdruck zu verleihen, ohne sie in den Vordergrund zu spielen, lädt sie uns ein uns Jenseits der Gleise umzusehen und selbst den jeweiligen Orten nachzuspüren.

 

Gedankenpfade (… auszug, aus dem Projekt “ von Orten „, KB SW, 2002)

Eine Serie aus sieben Bildern. Sechs in Schwarz-Weiß gehalten, eines in Farbe. Fünf Bilder zeigen Wege, zwei Bilder Gesichter.

Birgit Nitsch, o.T., aus "Gedankenpfade", 2002, ©Birgit Nitsch
Birgit Nitsch, o.T., aus „Gedankenpfade“, 2002, ©Birgit Nitsch

 

Wenn der Alltag fremdbestimmt ist, leiten Gedanken und Träume auf Wege zu vermeintlich mehr persönlichem Raum. Das ist, was in den – mit einer Ausnahme – in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildern dargestellt ist.

Wege, die in eine Richtung führen, aber kein Ziel kennen. Wege, die Perspektive tragen und dennoch keine aufzuweisen scheinen. Auch das abschließende Portrait der Autorin weist mit dem Blick in eine Richtung, ohne, dass dem Betrachter der Eindruck vermittelt wird, sie blicke auf etwas Bestimmtes.
Zunächst scheint in der Serie das dritte Bild herauszufallen. Es ist in Farbe und es ist in Bewegung: einer Drehbewegung. Einer die Fliehkraft und mühsames Zusammenhalten zu vermitteln sucht. Hier kommt das Gefühl zum Vorschein, dem Alltag nicht entfliehen zu können. Sich in ihm zu drehen ohne einen Weg heraus zu finden. Und mit der Farbe wird auch die Ebene der Realität von jener der Gedanken und Träume abgegrenzt.

Birgit Nitsch gelingt hier ausgesprochen gut das Hamsterrad des Alltags und unserem Umgang mit ihm darzustellen. Ein weg-von ohne ein bestimmtes hin-zu darzustellen. Situationen, in denen sich viele wiederfinden können. Eine Antwort, ein Ratschlag gar, wird hier nicht gegeben. Ein Wiedererkennen einer solchen Situation ist in jedem Falle möglich.

Viele ihrer Arbeiten sind sehr persönlich gehalten. Aber in allen schafft sie es eine eigene Präsenz aufzubauen, dem Betrachter dabei ausreichend Raum für eigene Empfindungen zu lassen.

Und so sind die Arbeiten von Birgit Nitsch ein schönes Beispiel dafür, dass nicht das Selbstportrait ein Bild ausmacht, sondern die fotografische Einladung an den Betrachter in jenes einzutreten.

 

Berlin, August 2015


 

Die hier gezeigten Bilder sind Eigentum von Birgit Nitsch. Die Verwendung erfolgt mit der freundlichen Genehmigung der Fotografin.

Internetpräsenz von Birgit Nitsch

 

Jürgen

Ich bin gelernter Physiker und arbeite als Projektmanager und Berater. Mit meiner Familie lebe ich in Berlin und genieße dort die lebendige Atmosphäre. Die Kamera ist mein Mittel um Ausdruck zu suchen und Balance zu finden.

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