Jürgen Hurst
Ich stehe an einem geteerten Weg an der Grenze zwischen dem berliner Norden und Brandenburg. Der Himmel ist grau, der Nebel hängt tief, die Atemluft beschlägt – für kurze Momente nur, dafür aber regelmäßig – die Brillengläser. Hinter mir, eine Siedlung mit Einfamilienhäusern. Wohneigentum mit sauber angelegten und gepflegten Vorgärten. Bestimmt voneinander und von mir abgegrenzt. Vor mir, eine BMX-Strecke. Die späteiszeitlich geformte Dünenlandschaft scheint dafür fast vorbestimmt. Spuren von dicken Fahradreifen verlieren sich in den Sandhügeln zwischen niedrigen Kiefern, Birken und vereinzelten Erlen. Dahinter ein abgeerntetes Maisfeld, das schon in kurzer Sichtweite mit dem tiefhängenden Nebel verschmilzt. Zwischen den Stoppeln tiefe Spuren von schwerem Gerät, in dem sich vereiste Pfützen gebildet haben. Es ist still. Selbst die monotonen Geräusche der nahen Autobahn scheinen nicht duchzudringen. Ich lausche in mich und die Zeilen eines Jacques Brel-Chansons[1] drängen sich in mein Bewusstsein:
Ein Fahrradfahrer in Montur kommt von rechts in mein Blickfeld, rauscht an mir vorbei und ist auch gleich links wieder verschwunden. Von rechts nach links, oder auch umgekehrt, da verläuft in Form dieses geteerten Wegs die Stadtgrenze. Ehemalige Mauer seinerzeit, Mauerweg, so die jetzige Bezeichnung. Martialisch bewachte Systemgrenze damals, Hundeauslaufstrecke heute. Sauber von Eigentum hier und bewirtschafteten Feldern dort abgegrenzt. Ich halte inne.
Was ist das, „die Landschaft“? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Woran erkenne ich, dass ich in einer Landschaft bin? Gibt es auch Räume, die keine Landschaft sind? Was ist mit dem Golfplatz, den ich durch den Nebel zwar nicht sehen kann, wohl aber weiß, dass er in wenigen hundert Metern sich erstreckt? Was mit der Autobahnraststätte, die unmittelbar daneben liegt?
Ich bin neugierig und beginne zu recherchieren. Fragt man die Landschaftsplanung[2], so antwortet sie mit einem breiten Spektrum von Konzepten. Auf der einen Seite beginnend mit dem „engen Landschaftsbegriff“, mit traditionellen Elementen, wie Wiesen, Bäumen, Sträuchern. Bis hin zu einem „erweiterten Landschaftsbegriff“, der darüberhinaus Straßen, Infrastruktur, Stromtrassen, Industrieanlagen, u.v.m. umfasst. Nur, wie hilfreich ist eine solche Einteilung? Ist der Erste der beiden Begriffe, gemessen an dem heterogenen Bild, das aktuelle Umgebungen den Betrachtern bieten, vielleicht doch ein wenig zu eng, so kommt der Zweite in einer Form der Entgrenzung daher, die alles umfassen kann, und damit wiederum nichts tatsächlich umfasst. Wo beginnt Landschaft, wo hört Urbanes auf? Was ist noch suburban, was bereits rural?
Es stellt sich die Frage, ob Landschaft der passende Begriff ist, um das Thema meiner Fotografie einzuordnen. Ob der Begriff Landschaft vielleicht auch mit zu vielen Lasten daher kommt. Lasten, die jenseits meines Interesses liegen. Ob nicht mitschwingende Bewertung, Ideologie, oder einfach auch eine bestimmte Ästhetik im Wege stehen, wenn die Bilder mit dem Begriff Landschaftsfotografie etikettiert werden.
Meine Routenplan führt mich vom geteerten Weg weg. Ich biege links in den Wald ab. Ein kleiner Trampelpfad liegt vor mir, die Welt der sichtbaren und fühlbaren Grenzziehungen von Anwohnern und Stadtplanern hinter mir. Ganz offenbar wird der Pfad nicht so häufig begangen. Ich beginne mich frei zu fühlen. Der Wald umhüllt mich und nimmt mir das diffuse Gefühl ein unerwünschter Besucher zu sein. Der Pfad führt durch Gebüsch und Gesträuch eine Düne rauf und wieder runter und die nächste wieder nach oben. Am Rand des Pfads stehen vereinzelt betonierte Pfeiler. Zum Teil sind sie gebrochen, manchmal nur geneigt, der eine oder andere steht auch noch aufrecht. Moos überzieht die rauhe und brüchige Oberfläche, an einigen Stellen ist darunter die freigelegte Bewehrung zu erkennen. Es könnte sich um Teile der ehemaligen Grenzanlagen handeln, während der benannte Mauerweg, ca. 100m davon entfernt, weiter seine geteerte Spur durch die Umgebung legt. Möglicherweise gab es bereits eine Trasse, die sich für die Anlage des Mauerwegs als geeigneter dargestellt hatte als der eigentliche Verlauf der Mauer. Vielleicht täusche ich mich aber auch. Vielleicht sind es Reste von Anlagen, die gar nicht zur Mauer gehörten. Und trotzdem: solcherlei Erscheinungen da draußen erzählen etwas.
Gestörtes Gelände, so nennt die Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky solche Räume. „Gelände, das von den Schichten menschlicher Intervention, vom Beginnen und Aufgeben, von Hoffnungen und Verlassenheiten und der langsamen Wiederbesiedlung durch Natur geprägt ist.“[3]
Mit ihrem poetischen Sprachgefühl hat Esther Kinsky eine eigene Gattung geschaffen: den Geländeroman. Sie lädt die Leser dabei ein sich auf ihr Terrain zu wagen und dabei etwas zu entdecken, das häufig allzu schnell übersehen wird. Kinsky grenzt sich dabei bewusst vom Landschaftsbegriff ab, dem sie die erzählerische Qualität – möglicherweise wegen des ideologischen und ästhetischen Ballasts – nicht zutraut[4]. Es ist diese Offenheit, diese Form der Neugier, das Blicken auf schnell Übersehenes, die den Erscheinungen einen erzählerischen Raum geben kann. Die den Geschichten der Formen, die, – natürlichen oder zivilisatorischen Ursprungs, mehrfach durch Menschen überprägt, und vielfach durch die Natur wieder integriert, – die diesen Geschichten der fortlaufenden Umwandlung Aufmerksamkeit schenkt.
Ich verlasse die vermeintlichen Mauerreste und stapfe weiter mit sichtbarem Atem durchs Gebüsch und über umgestürzte Bäume hinweg. Die letzten Winterstürme sind nur wenige Tage her, die Bruchstellen, aber auch die Äste noch frisch. Der Trampelpfad weitet sich und mündet in einen breiten Waldwirtschaftsweg. Tief sind die Spuren der Forstbewirtschaftung hier eingegraben. Rechts und links reiht sich ein Baumstapel an den nächsten. Die geschichteten Stämme sind einheitlich in der Länge und im Durchmesser. Der Verschnitt liegt verstreut auf dem Waldboden. Was verwertbar ist, wird markiert, begradigt und gestapelt. Der Rest bleibt, verdorrt, vermodert, wird reintegriert. Ein grober Selektionsprozess, der – anders als sonst – nicht im geschützten Raum eines Sägewerks, sondern hier draußen im Gelände stattfindet.
Es lässt sich nicht trennen. Was ist menschlicher Einfluss, was ist Verwilderung. Formen, die auf den ersten Blick natürlich erscheinen, sind möglicherweise nur entstanden, weil menschliche Eingriffe die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Scheinbar wildnisartige Geländeformen sind angelegte Bereiche, die einfach nicht begehbar sind. Manch angelegt anmutende Formation ist umgekehrt Ergebnis eines natürlichen Gestaltungsprozesses. Die Elemente des Geländes, ihre Erscheinungen, ihre Formen tragen natürliches und kultürliches gleichermaßen in sich. Natur und Kultur haben sich, Ralf Hanselle[5] hat es schön beschrieben, ineinander verhakt. Es lässt sich nicht lösen und es wird sich in dieser Verschränkung auch immer weiter umwandeln. Unter menschlichem und unter natürlichem Einfluss.
Mein Weg kommt zu seinem Ende. Mittlerweile stehe ich auf einer Brücke über der Autobahn. Sie verbindet die Hauptstadt mit dem Umland, dahinter mit Hamburg und Rostock. Rechts von mir der Forst, links Mehrfamilienhäuser, die sich hinter einem Streifen mit Baumresten und dazwischenliegenden Sträuchern abzeichnen. Mein Blick folgt dem Mauerweg. Auch hier legt er unbeirrt seine geteerte Spur um Bewohntes von Unbewohntem zu separieren. Die Autobahn selbst stellt nicht nur eine Verbindung her. Auch sie schafft eine Kluft. Ein Hier und ein Dort. Die beschauliche Eigenheimumgebung am Beginn des Wegs und der Sozialwohnungsbau an seinem Ende. Der Strom der Fahrzeuge, ab hier hereinströmend streng auf 60km/h gedrosselt, herausströmend befreit dem Geschwindigkeitsdrang nachgebend, erzeugt eine neue Grenze.
Der Weg, gesäumt mit der ganzen Vielfalt von Erscheinungen, manchen interessanten, vielen unauffälligen, er erzählt. Er erzählt über angeeignete Räume, über menschliche Eingriffe und natürliche Veränderungen. Und über uns und unsere Fähigkeit und Bereitschaft diesen Erzählungen nachzuspüren. Die dafür notwendige Offenheit und Neugier, sie scheint mir im Gelände sehr viel einfacher möglich, als in der Landschaft.
[1] Jacques Brel, „Il neige surLiège“, Musik und Text: Jacques Brel erschienen auf Jacques Brel, „Les Bourgeois“,Barclay/Universal 1962
[2] Dorothea Hokema, „Landschaft im Wandel?“, Kap. 2. „Zur Ideengeschichte des Landschaftsbegriffs“, RaumFragen Stadt – Region – Landschaft, Springer Fachmedien Wiesbaden, 2013
[3] Esther Kinsky: Adelbert-von-Chamisso-Preis 2016 https://www.youtube.com/watch?v=vr2QCdln0-g, aufgerufen am 10.03.2018
[4] Deutschlandfunk: Nature Writing. Über Natur schreiben heißt über den Menschen schreiben. http://www.deutschlandfunk.de/nature-writing-ueber-natur-schreiben-heisst-ueber-den.1184.de.html?dram:article_id=407607, aufgerufen am 10.03.2018
[5] Ralf Hanselle, EntfernteNähe, Landschaft zwischen Heterotopie und Utopie. In diesem Heft.