Ein Blick zurück

Ein Blick zurück

Hartmut Rosa, von mir hochgeschätzter Entschleunigungs- und Resonanzpapst, gab die Tage ganz unentschleunigt, ja fast atemlos, das ist er aber irgendwie in allen seinen Interviews – ich muss darüber mal nachdenken, ob ich ihn dergestalt in Resonanz mit seinen Themen empfinde ;-), also Hartmut Rosa gab im breitesten südbadischen Hochdeutsch in einem Interview im Deutschlandfunk kund, dass dieses Jahr uns eine andere Zeiterfahrung geschenkt habe. Aha, musste ich dabei denken, da ist mir selbst wohl was entgangen.

Es mag wohl sein, dass viele Menschen arbeits- oder engagementlos wurden, und daher mutmaßlich mehr Zeit haben. Es ist eine Verlusterfahrung, die ich nicht teilen möchte. Aber zurück zum Erleben der Zeit: Hartmut Rosa kann mich nicht meinen. Mein Zeitempfinden hat sich nicht wesentlich verändert. Und wenn überhaupt, dann subjektiv in anwachsender und nicht in zurückgehender Geschwindigkeit. 

Dafür hat sich meine Raumerfahrung massiv verändert. Mein Leben spielt sich seit März im Wesentlichen auf 13 Quadratmeter mit Blick auf einen Berliner Hinterhof ab. Die regelmäßigen Reisen, in den Vorjahren sicher an die 30, 40 manchmal 50 Stück, durch Deutschland, privat auch über die Grenzen hinweg in den Süden, sie fielen einfach weg. Und mit ihnen der damit verbundene Raum, die Bewegungsfreiheit, Kontakt und Gespräch. Beruflich war das ein Kulturschock. Mein ganzes Tun und Handeln baut auf Kontakt auf. Auf Beziehung, auf Neugier und Lernen im Gespräch. Und nun? Telefonate. Mit Kolleg*innen ging ja noch Video, aber mit Kund- und Partner*innen schon nicht mehr. Das war schon eine spezielle Herausforderung. 

Im persönlichen Bereich ist mir durch besagte Raum- und Bewegungsbeschränkung das Fotografieren abhanden gekommen. Fotografieren war für mich stets ein Moment, indem ich Verbindung und Kontakt zur Welt fand. Nun fand Welt aber nur noch vermittelt statt. Über digitale Zeitung, über Radio und Podcasts, über Fernsehen und Mediatheken. Für eine Verbindung dazu taugt der Fotoapparat nicht. Das war keine blitzartige Erkenntnis, das war auch wochenlanges mühsames Arbeiten an der Frage, warum keine Bilder mehr entstehen. Ob sie wiederkommt? Die Welterfahrung und die Funktion der Fotografie? Ich kann die Frage nicht beantworten. Die kommenden Monate werden mir das wohl erzählen. Ebenso, wo ich mir in Zukunft möglicherweise die Fotografie ersetzend Balance verschaffen kann.

Highlights des Jahres waren dann tatsächlich die Handvoll Reisen. Zwei Tage im Mai an der Ostsee, drei Tage im Juli in Badischen und in Basel, und im September vier Tage im Harz und dann natürlich die zehn Tage auf dem Rad durch Österreich. Es ist schon ein bemerkenswertes Gefühl von Freiheit, wenn der Raum nicht erst nach drei Metern am nächsten Fenster oder nach zehn an der nächsten Hauswand endet. Bisher eine Selbstverständlichkeit, seit März bröselt sie.

Und noch etwas bröselt seither. Eine Art systemische Sicherheit. Ich lebe nun seit fast 57 Jahren in einem System, das ich immer für robust hielt. Diese Robustheit ist wahrscheinlich auch größer als ich das heute empfinde. Aber sicher kleiner, als ich sie bis vor einem Jahr empfand. Sie wird empfindlich durch die Beobachtung gestört, welche Anziehungskraft Erzählungen haben. Und welches Störpotenzial aus solchen Erzählungen entstehen kann. Ob das die Lügen von Trump, das Framing von Orban, Kaczynski und deren Entourage ist, ob das die nun vollzogene Brexitsache ist, ob das Reichsbürger oder Verschwörungsbegeisterte sind. Sie leben in einem Raum von Erzählungen, der nichts mit Realität gemein hat. Und der nichts mit einer Freiheit des Denkens und Lebens in einer komplexen Welt zu tun hat. Ich empfinde diese – nun mal systemisch gesprochen: diese Störungen unterdessen als groß genug, dass sie das System, in dem wir ein dynamisches und komplex-austariertes Gleichgewicht von Interessen leben, empfindlich treffen könnten. Ich denke nicht, dass wir vor einem Kippen stehen. Ich glaube auch, dass sich diese Bewegung in einer Stärkung der stabilisierenden Faktoren auswirkt. Aber dennoch hat es mein ganz persönliches Empfinden von Stabilität getroffen. Zur Sicherheit morgen noch so leben zu können, wie ich es 50 Jahre lang konnte, kam in diesem Jahr die Vorstellung dazu, dass sich genau das durchaus auch ändern könnte. 

Ja, ich bin froh, dass dieses Jahr zu Ende geht. Und ich hoffe, dass die Räume, die ich erlebe, in den kommenden Monaten wieder größer werden. Ich wünsche mir sehr meine Fotografie zurück. Und mit ihr auch ihre gleichgewichtsstiftende Wirkung. Und ich wünsche mir vielleicht – vermutlich ist das illusorisch – dass sich mein Zeitempfinden jenem von dem Hartmut Rosa erzählte, annähert.

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