Let’s Get Physical

Let’s Get Physical

Ich stelle in meiner persönlichen Beobachtung schon lange fest, dass es bereits seit ihrer Erfindung eine tiefe und auch heute noch andauernde Identitätskrise der Fotografie gibt. Sie mündet darin, dass sich Heerscharen von Philosophen und Kultur- und Kunstwissenschaftlern zu vor allem zwei Fragen ausgelassen haben und eben auch heute noch auslassen:

  • Ist Fotografie Kunst?
  • Bildet Fotografie Realität ab?

Selbst wenn es nicht jedesmal Titel und Thema von Aufsätzen bestimmt, die Motivation sich über Fotografie Gedanken zu machen wird ganz oft von genau diesen beiden Fragen bestimmt. 

Seit nunmehr 20, vielleicht sogar schon seit 30 Jahren wird dieser kleine aber exklusive Kanon identitätserschütternder Grundkonflikte durch einen dritten ergänzt. Auch zu diesem werden die Gedanken – vielfach auch die Klagen und Beanstandungen nicht geringer:

  • Ist digitale Fotografie überhaupt „richtige Fotografie“?

Ich bin in letzter Zeit (erneut) darüber gestolpert, als ich einer Arbeit von Lukas Glajc über den „Verlust des Negativs“ begegnet bin. Der Arbeit selbst stehe ich skeptisch gegenüber, was aber auch daran liegen mag, dass ich als Naturwissenschaftler eine andere Vorstellung von begrifflicher Präzision habe. Sowohl was philosphische als auch was naturwissenschaftlich-technischen Aspekten anbelangt. Hier finde ich den Autor ausgesprochen diffus, vage, teilweise irreführend und falsch. Aber das nur nebenbei. Hier mal in kurzen und einfachen (geradezu mutwillig vereinfachenden) Worten zusammengefasst, was er in seinem Essay so schreibt:

  • Nur die analoge Fotografie nutzt Licht. Licht schreibt Wirklichkeit in ein Negativ ein.
  • Die digitale Fotografie beruht auf Rechenvorgängen, digitale Bilder werden durch Software erzeugt, daher sind digitale Bilder auch keine Dokumente, sie haben keine Beziehung zur Wirklichkeit.
  • Analoge Fotografie ist ideengeschichtlich tief in unserer Kultur verankert, der digitalen Fotografie fehlt diese Verwurzelung völlig. 

Die Reaktion von Digitaljüngern auf solcherlei Fundamentalkritik fällt häufig mindestens so platt aus, wie die Argumente derjenigen, die das Analoge für den Hort des eigentlich Fotografischen halten: 

  • Analog wie digital nutzen optische Abbildungen, basieren damit beide auf Licht.
  • Analog wie digital transformieren mittels physikalisch-chemischen Vorgängen Licht in Information. 
  • Analog wie digital halten diese Information fest.

Natürlich ist ein Bildsensor lichtempfindlich. Und genauso wie die Fotochemie aus Licht ein Informationstableau entstehen lässt, passiert das auch mit Bildsensoren. Trotzdem gibt es Brüche, trotzdem finden digital algorithmische Transformationen statt, mindestens jene, die aus den Sensorzuständen eine Datei erzeugt und in einen Speicher schreibt. Und trotzdem, die aktuellen Smartphone-Features (KI, Deep Fusion) nutzen ganz offen diese Features, werden so Tore geschaffen um etwas in Bilder zu bringen, das eben nicht optisch erfasst sondern algorithmisch ergänzt wurde. Und zwar ohne, dass der Fotograf überhaupt noch mit solchen „Details“ belastet wird. 

Ein zusätzlicher Punkt besteht darin, dass beim analogen Prozess etwas Physisches entsteht. Etwas, das als Original, als „das Bild“ gelten kann. Für mich ist das übrigens der wesentliche Punkt. Das gibt es digital so ohne weiteres nicht: ein Datensatz lässt sich von seinen Kopien nicht unterscheiden. Und es lässt sich auch kaum nachvollziehen, ob dieser Datensatz unmittelbar aus dem Sensor stammt, bzw. wievielen und auch welchen digitale Transformationen er denn schon unterzogen wurde. In diesem Sinne ist der Verlust des Negativs tatsächlich ein Verlust: nämlich der Verlust des Originals. 

Früher, in den guten alten Zeiten der Dunkelkammern, da war das Moment einen Abzug in Händen zu halten ein Erlebnis. Mal enttäuschend, mal begeisternd. Aber immer ein Moment, dass ein „Begreifen“ dessen, was man fotografiert hat, ermöglichte. Der Abzug gehörte als Vervollständigung (mindestens als Kontaktabzug) notwendigerweise zum Entwicklungsprozess. Im digitalen Prozess ist das Drucken keine Notwendigkeit mehr. Der eigentliche Prozess kann schon innerhalb der Sekunde der Aufnahme abgeschlossen sein. Für viele, vielleicht die meisten, reicht es aus mit dem Smartphone durch digitale Alben zu scrollen. Manche brauchen dann vielleicht schon ein größeres Display. Schließlich eignen sich auch nicht alle Bilder für die kleinen Smartphone-Displays. Und nur die Wenigsten drucken ihre Bilder oder machen Abzüge. Nun ist ein Abzug kein Original im eigentlichen Sinne. Diese Funktion übernimmt das Negativ. Abzüge und Drucke kann man sowohl analog als auch digital vielfach anfertigen. Trotzdem verbirgt sich hinter einer physischen Repräsentation etwas anderes, als hinter einer Datei in einem Ordner auf einem Laufwerk.

Vielleicht ist der digitale Prozess – mal aus ganz pragmatischer Sicht betrachtet – gar nicht defizitär was die Wahrhaftigkeit, die „Wirklichkeitstreue“ der Bilder anbelangt. Schließlich konnte man auch schon zu analogen Zeiten wunderbar mit Bildern täuschen. Vielleicht ist er einfach nicht vollständig. Vielleicht brauchen wir dieses Anfassen um etwas zu begreifen – und damit auch um Vertrauen zu entwickeln. Ein Vertrauen darin, dass digitale Fotografie sich in ihrer Funktion für Fotografen und Betrachter gar nicht so sehr von der analogen unterscheidet. 

Ich gebe es frank und frei zu: ich vermisse den Chemiegeruch überhaupt nicht. Aber aus den Tausenden von Bildern, die ich digital aufnehme und die auf Festplatten und Cloudspeichern lagern, das eine oder andere dann doch zu drucken, schafft für mich etwas, das mir Fotografie als kreativen Prozess und als Ausdrucksform nahe bringt. Das mir nicht nur Betrachten sondern auch Begreifen ermöglicht. Ein Begreifen dessen, was ich da eigentlich fotografiert habe.

Es ist ein Erlebnis. Mal ein enttäuschendes, mal ein begeisterndes. Aber immer eines, das mir über das Betrachten am Bildschirm hinaus andere Aha-Momente verschafft.