Jeder hat Ideen

Jeder hat Ideen

Prolog

Jetzt streng Dich halt mal an.

Der Innere Lehrmeister hat sich motivieren lassen und fordert zum Handeln auf. Weil – alte südbadische Bauernweisheit – Ideen kommen nicht am Schreibtisch, auch nicht auf dem Sofa. Sie kommen beim Arbeiten im Garten, beim Fahrradfahren, im Weinberg, beim Tun.

Okay. Ich seh’s ja ein.

Das Alter Ego seufzt, geht in den Garten, fährt Fahrrad, nein, nicht in die Reben, die gibt’s hier nicht – aber er tut halt mal. Obgleich es ihm derzeit sehr schwer fällt. Zu viele Themen, zu viel Arbeit, zu viele lose Fäden, zu viele Skrupel, zu viel Verantwortungsdenken (oder doch Kontrollzwang???) – zu viele Ausreden! Aber eine Änderung findet nur dann statt, wenn man sich selbst ändert. Eben das Ändern leben (frei nach Tucholsky).

Er dreht sich um und holt drei Schachteln aus dem Regal.

Der Schaum der Zeit

Ein Ansatz in dem ich meine Wolken mal unterbringen mag. Und die Eisschollen. Und die Tropfsteine. Und die Wasseroberflächen. Und die Felsen.

Also, es geht um Form- und Gestaltungsprozesse in der Natur. Wichtig: in der unbelebten Natur – es ist vllt. kein Zufall, dass ich in die Physik gestolpert bin – eben nix Organisches, nix Soziales, nix Psychologisches. Auch als Auseinandersetzung mit meinem Dauerbrenner: wie werde ich diese Welt, die die Fotografie ja notwendigerweise braucht um Fotografie zu sein, los. Wenn’s gut läuft, dann wird das eine Reise in Sphären, die eben keine Wolken, Wasseroberflächen oder Steine sind. Mein Gedanke ist, dass sich dieses Loslösen mit unbelebter Natur besser machen lässt. Hypothese halt – mal kucken, ob das so funktioniert. Derzeit läuft es so nebenbei und ich sammle. Aus dem Archiv – oder wenn mir aktuell eben etwas mit der Kamera auffällt.

Übrigens sind hier viele Bilder dabei, von denen ich im Sardinienbeitrag meinte, dass sie Potenzial zu mehr hätten. Hier wird sich dann herausstellen ob das denn tatsächlich so ist.

Ich stelle vor: Der Schaum der Zeit.

24 Fenster

Das ist eigentlich nichts Neues. Die Bilder gibt es schon lange, als Video sind sie auch schon seit ca. 3 Jahren veröffentlicht. Allerdings fehlt es dem Stück ein wenig an Metacontent. An einer formulierten Idee, auch einem Gestaltungsstatement. Außerdem will ich die Präsentation verändern. Ich will es nicht mehr (nur) als Video, sondern auch als Flachware. Entweder hochwertig drucken – oder, das muss nochmal genau ausprobiert werden – ausbelichten lassen.

Im Vergleich zur Version vor 3 Jahren habe ich ein Bild rausgenommen und die Sequenz verändert. So, wie es nun sequenziert ist macht es für mich mehr Sinn. Das ist es vielleicht, das ich in den 4 Jahren Jahresklasse nun auch gelernt habe: was eine innere Logik der Bilder ausmacht und wie sie sich in Bildsequenzen oder -feldern darstellen lässt.

Wer die Bilder gerne ansehen mag: 24 Fenster (Bildmaterial).

Und wer das Video lieber mag: 24 Fenster (Fotofilm).

Dissolving Structures

Lost Places sind ja nicht so richtig mein Ding. Einmal wegen der Leute, denen man auf Lost Places Touren so begegnet – Jäger, Alles-ganz-genau-Wisser, Gearheads – okay – stopp! – ich versinke gerade voller Inbrunst in Vorurteilen. Und dazu noch in komplett verzerrenden. Jürgen, Jürgen, Jürgen…

Also: ich habe eine Beelitz-Heilstätten-Tour zum Geburtstag geschenkt bekommen und hab diese Tour dann neulich wirklich sehr genossen. Erst hatte ich mich gefragt, was ich denn da fotografieren könne oder solle. Angesichts dessen, dass es Myriaden von Bildern und Büchern über Lost Places im Allgemeinen und über Beelitz-Heilstätten im Besonderen gäbe. Schwierig, so richtig einen Plan habe ich in mir nicht entdeckt und bin also einigermaßen planlos, wohl aber mit dem Vorhaben der Offenheit, dahin. Diese 7 Stunden Tour habe ich ausgesprochen genossen. Mir war zwar völlig unklar, warum man Menschen überhaupt in diese Ruinen lässt. Und wenn, warum man Menschen dann den Zutritt ohne Helm erlaubt… ich war schon in wesentlich ungefährlicheren Locations zu einem Helm gezwungen. Hier war Unbedarftheit im Bewegen auf dem Gelände irgendwie eher die Regel… trotzdem (oder gerade deshalb vllt.) war es sehr cool.

Also mit ca. 400 Bildern wieder nach Hause. Eine Woche entwickeln und drucken, und dann überlegen was ich damit machen könne. Und beim Legen der Bilder entstand eine Idee wie man a. das Auflösen von Strukturen und b. vielleicht die Konstruktion von Erinnerungen visualisieren kann. Ein Beispiel zur Illustration: eine Treppe in einem der Gebäude. Von zwei Standpunkten fotografiert – und in der ersten Version noch ergänzt durch ein Loch in einer Wand. Das ganze zu einem Bild – einem Hyperimage kombiniert, das dann unterschiedliche Sichten und Perspektiven, zum Teil eben auch Dinge, die gar nicht zusammen zu sehen waren, in ein Bild bringt. So als Metapher auf den Konstruktionsprozess, der beim Erinnern in unseren Köpfen abläuft.

Das erste Bild ist eine digitale Collage, in der die Bilder möglichst nahtlos ineinander übergehen. So als wäre es eine quasi-realistische Szene, die so hätte vllt. existieren können. Jedenfalls beim ersten Hinsehen.

Treppe Waschhaus – Digitale Collage

Und das zweite ist eine Collage, in der die Bilder als Einzelbilder noch zu erkennen sind, in der aber in den Übergängen eine Gleichzeitigkeit, eine Art Unentschiedenheit, welches denn die wahre Erinnerung sein könnte, bleibt.

Treppe Waschhaus – Digitale Collage – Alternative

Welche der beiden Versionen die Bessere ist, weiß ich gerade noch nicht. Momentan tendiere ich zur zweiten. Sie versucht nicht etwas vorzugeben, was nicht da war, sondern kommentiert durch die Erkennbarkeit beider Bilder diesen Überlagerungsprozess, dieses Oszillieren zwischen unterschiedlichen Standpunkten bzw. unterschiedlichen Sichtweisen, die als Erinnerung auftauchen (könnten). In der Ästhetik ist halt diese Kommentarfunktion stärker sichtbar als in der ersten Version.

Ich weiß es noch nicht. Ich mag nicht verschleiern, mag mich in den Bildern nicht auf eine Anmutung alleine reduzieren und andererseits mag ich auch nicht mit der visuellen Keule schwingen. Das muss noch in mir gären. Auch über andere Bildkombinationen/Sichtweisen aus dem Projekt.

Tatsächlich ist dieses letzte Projekt gerade das, das mich am meisten beschäftigt. Unerwarteterweise. Aber, dadurch, dass sich hier für mich etwas abzeichnet, das mit meinem Lieblingsthema „Wahrnehmung“ zu tun hat, hat es sich aus der hinteren Reihe der Ideen und Projekte erstmal ganz noch vorne gemogelt. Und macht Spaß. (Übrigens: die Leute auf Lost Places Touren sind tatsächlich in vielen Fällen Alles-ganz-genau-Wisser. Der Satz – „Deine erste Tour hier?“ – und das Gespräch hat schon die befürchtete Richtung 😉 . )

Epilog

Ja, Du hattest Recht. „Extrem-Sofaing“ lässt keine Ideen aufkommen. Es sind dann aber wieder so viele, dass ein Verzetteln vor der Türe steht. Muss dann eben auch gemanagt werden…

Das Alter Ego packt die Schachteln wieder zusammen, legt sie ins Regal zurück und dreht sich um. Er sieht dem Inneren Lehrmeister in die Augen und lächelt.

Langsam kommt dergestalt auch wieder Struktur in Lebensbereiche, die in den letzten Monaten stark unter dem „Zu viel“ gelitten haben.

Der Lehrmeister lächelt zurück.

Jeder hat Ideen.